Hermann Scheer starb vor 10 Jahren – Nachruf von Gerhard Hofmann, geschrieben vor 10 Jahren, erschienen in Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft
Wenn Hermann Scheer anrief, war meist die erste Frage: „Kennste den schon…?“ gefolgt von einer ansteckenden Lachsalve. Scheers Humor war ebenso unerschöpflich wie sein Witzearsenal. Ich lernte ihn kennen, als ich 1994 zum Leiter des RTL-Studios Bonn berufen wurde. Von einem wie ihm ernst genommen zu werden, half darüber hinweg, dass ich mich manchmal der drei bunten Buchstaben schämte. Viel habe ich von ihm gelernt. Er war ein hervorragender Analytiker, sagte mir etwa in der Nacht des 23. Mai 2005 nach dem SPD-Vorstand im Berliner Willy-Brandt-Haus einen Tag nach dem Neuwahl-Beschluss die Große Koalition voraus.
Warum Energie (wie die Wasserfrage) mit die Schicksalsfrage des 21. Jahrhunderts ist (vom Frieden bis zum Klima), hat kaum einer so früh erkannt und so klar formuliert wie Scheer, der Bundestagsabgeordnete (seit 1980), der Präsident der Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien, der Vorsitzende des World Council for Renewable Energy, das Ratsmitglied beim World Future Council, der Träger des Alternativen Nobelpreises von 1999 und unzähliger anderer Auszeichnungen (u.a. Weltpreise für Solar-, für Bio-, für Windenergie), oder der „Hero for the Green Century“ des Time-Magazins. Damals, 2002, es war vor dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg, rief er mich an, stolz wie ein Kind, aber zuerst fragte er. „Kennste den….?“
Wenn auf einen das leicht übernutzte Bild der Kerze zutrifft, die an zwei Enden brennt, dann auf Hermann Scheer. Unermüdlich rackerte er, kaum gönnte er sich Erholung. Bis zu 200 Reden hielt er im Jahr; manchmal drei am Tag an verschiedenen Orten, manche zeichneten wir heimlich im RTL-Studio auf, damit er sie übers Internet bei einem Kongress in Australien abrufen lassen konnte.
Sein größter Erfolg – der größte von Rot-Grün überhaupt – war das Erneuerbare Energien-Gesetz, inzwischen in 47 Ländern übernommen, mit dem Stromeinspeisegesetz als Vorläufer noch unter Kohl gemeinsam mit Unionskollegen. Ohne Hermann Scheer wäre Deutschland nicht Weltmarktführer in den Öko-Energien, wäre die CO2-Vermeidung weit geringer, gäbe es zigtausende Arbeitsplätze weniger.
Zwei herbe Niederlagen musste der Streitbare verdauen: In Hessen hinderten ihn im Frühjahr 2008 mediokre Landtagsabgeordnete (die die Geschichte direkt nach ihrer Weigerungs-Pressekonferenz zu Recht in der Namenlosigkeit versinken ließ) kurz vor dem Ziel daran, seine Vision einer autarken dezentralisierten Energieversorgung in der Praxis zu beweisen. Er war mitnichten ministergeil, wie ihm manche übel nachredeten; Titel hatte er (s.o.) wahrlich genug, war bekannter als jeder Landesminister. Wir trafen einander damals zufällig auf der WIREC (der Washingtoner Erneuerbaren-Konferenz) und ich sah aus der Nähe, wie ihm die Enttäuschung über den Verrat zusetzte, ihn wütend machte. Und als der Sitz von IRENA, der Internationalen Erneuerbare-Energien-Agentur, nach Abu Dhabi kam, verhinderten hohe SPD-Chargen, dass er, der 20 Jahre für seine Idee gekämpft hatte, ihr Chef wurde.
Irgendwann war Scheer die Nachsicht der Dummheit gegenüber abhanden gekommen. Er ließ viele, zu viele spüren, dass er ihnen überlegen war. Das machte ihm Feinde, mancher (auch) in der SPD hasste ihn, tat ihn als Spinner ab, als Ideologen, als Glaubenstäter und Wahrheitsbesitzer. Aus dem SPD-Vorstand schied er 2009 aus, weil er nicht mehr an politischen Machtspielen und Scheinlösungen beteiligt sein wollte. Kurz vor seinem Tod erschien sein (zwölftes) Buch „Der energethische Imperativ“, darin hat er ohne es zu ahnen, sein Vermächtnis formuliert: Das heutige gute Image der erneuerbaren Energien sei „gegen den Mainstream“ entstanden. Dieser sei heute noch „gefangen im Weltbild einer Energieversorgung, die von fossilen Energien und der Atomenergie geprägt“ sei. Der „konventionelle energiewirtschaftliche Kalkulationsrahmen“ sei aber passé, denn er lasse die „größten volkswirtschaftlichen Kostenfaktoren der konventionellen Energieversorgung unbeachtet“ – „Maß der Dinge“ müssten aber „die volkswirtschaftlichen Vorteile, die sich durch erneuerbare Energien ergeben“, sein. Deshalb müssten die Erneuerbaren „politisch sichergestellt“ Vorrang vor Kohle, Öl und Atom bekommen, diese müssten „in dem Maße verdrängt werden, in dem der Beitrag der erneuerbaren Energien zur Energieversorgung wächst“. Scheer war sich im Klaren darüber, dass das „für die etablierte Energiewirtschaft eine Zumutung“ bedeutet, weil ihr diese „Unterordnung schon abverlangt werden muss, wenn sie noch den überwiegenden Beitrag zur Energieversorgung leistet. Das Maß der Dinge darf nicht länger sein, wie viel erneuerbare Energien das konventionelle Energiesystem verträgt.“ Also keine neuen fossilen Kraftwerke mehr! Erst recht keine Laufzeitverlängerung für AKW. Nur so könne das Aufwachsen der Öko-Energien nicht ständig von den konventionellen behindert werden.
Den tagesthemen am 15. Oktober war der Tod Hermann Scheers kein einziges bewegtes Bild wert – eine trockene Wortmeldung mit schlechtem Schwarzweiß-Foto musste es tun. Stattdessen wurde ein Pseudoverbraucherbeitrag wiederholt: „Anhebung der Ökostrom-Umlage lässt Strompreise steigen“ (in Wirklichkeit sinkt die Umlage, nur: durch den Solarboom müssen die EVU über alles mehr Einspeisevergütung zahlen). Tags darauf forderte der von Atomstrom und Staatsknete finanzierte dena-Chef Kohler die Begrenzung der Photovoltaik wegen drohenden Netzkollapses (statt den Netzausbau zu forcieren) – Hermann Scheer fehlte bereits am zweiten Tag nach seinem Tod.
Obwohl in der Jugend Spitzensportler, Wasserballer bei Spandau 04 und in der Nationalmannschaft im Modernen Fünfkampf, hatte er ein schwaches Herz. Jetzt hat es aufgehört zu schlagen – mit 66, zu früh. Wenn ich sein Foto sehe, höre ich ihn immer noch fragen: „Kennste den schon…?“