Die Gesellschaft zerbröselt

Drei wichtige Bücher im NSA-Zeitalter: Christoph Kucklick, Jaron Lanier und Jeremy Rifkin

granulare Gesellschaft Titel In seinem aktuellen Buch „Die granulare Gesellschaft“ beschreibt Christoph Kucklick, Jahrgang 1963, promovierter Soziologe („Das unmoralische Geschlecht“) und Journalist, die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung. Die Digitalisierung verändere unsere Wahrnehmung der Welt, sagt der GEO-Chefredakteur, und das überrascht zunächst nicht: „Unsere Körper, die Natur, die Gegenstände – alles erscheint in höherer Auflösung, es existieren immer mehr Daten. Feinste Unterschiede werden erkennbar, das Individuelle überlagert das Allgemeine“. Vor diesem Hintergrund zweifelt Kucklick daran, dass wir unser gesellschaftliches Ideal der Gleichheit noch aufrechterhalten können.Denn im Umgang mit komplexen Daten seien uns Computer zusehends überlegen. „Wer sind wir noch, wenn Intelligenz und Rationalität nicht mehr als allein menschliche Merkmale gelten können? Müssen wir uns vom homo rationalis zum homo irritabilis entwickeln, um uns von intelligenten Maschinen abzugrenzen?“ In seinem Buch erklärt Christoph Kucklick, früher Autor für Die Zeit, Brand eins und Capital, die fundamentalen Umwälzungen unserer Zeit. Er zeigt, dass wir den Herausforderungen nur mit einem neuen humanen Selbstverständnis und einem veränderten Gesellschaftsmodell begegnen können. In der granularen Gesellschaft lösen sich auch unsere Gewissheiten auf: Wir werden uns neu erfinden müssen. Vor kurzem haben Kucklick und Sascha Lobo sich vor einer Videokamera unterhalten.

Jaron Lanier – Foto © vanz – flickr.com, CC BY 2.0, commons.wikimedia.org

Jaron Lanier, rastalockiger Veteran der Internetgeneration, weist schon eine Weile darauf hin, dass uns digitale Systeme zunehmend beherrschen, ja, dass sie gar autokratische Züge entwickeln. In seinem jüngsten Buch „Wem gehört die Zukunft?“ schreibt der im Oktober 2014 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete („Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bis Ihr Produkt.“): „Gängige digitale Konzepte behandeln den Menschen nicht als etwas Besonderes. Wir werden vielmehr als kleine Rädchen in einer gigantischen Informationsmaschinerie betrachtet.“

Lanier TitelAlles begann im Atari-Forschungslabor, wo Lanier 1983 das musikalische Weltraum-Action-Spiel Moondust und den Datenhandschuh ersann. Lanier kritiserte die sogenannte Schwarmintelligenz. Diese sei nur zur Vorhersage von Statistiken und Zahlenwerten wie Marktpreisen oder Wahlergebnissen geeignet, nicht aber zur Darstellung von Wissen. Systeme wie Wikipedia, die er dem Konzept der Schwarmintelligenz zuordnet, fänden oder verbreiteten keine Wahrheiten, sondern nur die Durchschnittsmeinung einer anonymen Masse. Die Darstellung von Wissen erfordere dagegen persönliche Kompetenz und Verantwortlichkeit. Das Internet fördert nach Laniers Überzeugung den Glauben daran, dass ein Kollektiv Intelligenz, Ideen und Meinungen hervorbringen könne, die denen des Individuums überlegen seien. Dieser Glaube führe dazu, dass das Kollektiv als wichtig und real angesehen werde, nicht aber der einzelne Mensch. Er bezeichnet ihn als „digitalen Maoismus“ und hält ihn für einen Irrweg.

Firmen wie Google sind für Lanier so etwas wie die kommunistische Partei. Mit seinem Buch Wem gehört die Zukunft? plädiert er für ein Ende der Umsonst-Mentalität, die letztlich nur den Konzernen nutze, und fordert, dass jeder Nutzer für seine Daten auch Geld bekommen solle. „Wenn alles frei verfügbar und umsonst ist, klingt das demokratisch, aber das ist es eben nicht. Denn die Internet-Mächtigen, mit ihren Riesen-Computern, mit der Möglichkeit, all diese Informationen auszuwerten und weiterzuverkaufen, sind am Ende die einzigen Profiteure. Und so wurde das, was eigentlich so demokratisch aussah, sehr, sehr unfair.“

Im Gegensatz zu Jeremy Rifkin. Rifkin Null-Grenzkosten-Gesellschaft - TitelDer amerikanische Ökonom, einer der bekanntesten gesellschaftlichen Vordenker unserer Zeit, sieht das ganz anders – er wähnt nämlich eine dritte industrielle Revolution heraufziehen, die Access-Gesellschaft: In dieser wirdder Zugang zu Dingen wichtiger als das Eigentum. Rifkin hält sein neues Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft: Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus” für eine „endgültige Theorie über die künftige Entwicklung der Menschheit. Wichtig für ihn sei „nicht nur, die Widersprüche des bestehenden Systems aufzuzeigen, sondern eine Orientierung für die Zukunft zu bieten“, sagte er dem österreichischen Magazin Profil. Der kapitalistische Markt habe ein Wunderkind geschaffen“, die sogenannte Ökonomie des Teilens, und damit das Wirtschaftssystem der Collaborative Commons, das auf Kollaboration und Teilen basiere, „das erste neue Wirtschaftssystem seit dem Kapitalismus und Sozialismus“. Die „Grenzkosten“ spielen für Rifkin eine zentrale Rolle, „die Kosten für die Produktion einer zusätzlichen Einheit eines Gutes oder Dienstes, wenn die Fixkosten schon bezahlt sind. Im Kapitalismus suchen Unternehmer ständig nach neuen Technologien, um die Produktivität zu erhöhen und die Grenzkosten zu reduzieren. So können Unternehmen billiger produzieren und zugleich höhere Profite einfahren. Der optimale Markt herrscht dann, wenn man zu den Grenzkosten verkaufen kann. Aber niemand hat eine technologische Revolution vorausgesehen, die für einige Güter und Dienste die Grenzkosten wirklich gegen null gehen lässt. Die Güter sind dann fast kostenlos und im Überfluss vorhanden.“

Michael Lehmann-Pape lobt auf lovelybooks.de Kucklicks „Blick auf den ‚Kern‘, das ‚Dahinterliegende‘ und die Folgen einer zunehmenden Nutzung, zunehmenden Implantierung des Internet in den Alltag und die damit einhergehende Vereinzelung in der Gesellschaft, die ‚Auflösung der Wirklichkeit‘ als Ganzes, die zunehmende Ungleichheit in den Zugangskompetenzen.“ Das sei ihm wichtiger als die konkreten Gefahren des Internet (wie Selbstvermessung, Monopolisierung, Datenkriminalität, Selbstentblößung oder Informationsdichte). Da, wo der „Klebstoff“ des Sozialen, die „feste Masse“ ihre Bindungskräfte verliere, ein treffend gewähltes Bild von Kucklick, entstehe „Granulat“, voneinander getrennte, in sich abgeschlossene, einzelne Elemente. Und je mehr die Digitalisierung fortschreite, desto mehr Daten sammelten sich über Individuen und desto feinkörniger werde das Granulat. Das Wort „Auflösung“ aus der Fotografie wird wörtlich: „Wir erleben eine neue Auflösung – diese neue Auflösung (im Sinne präziserer Daten) erzeugt eine neue Welt“. Kucklick beschreibe eine bis dato nicht gekannte „Differenzierung“, „Intelligenz“ und schließlich „Kontrolle“ – an diesen drei „Revolutionen“ weist er nach, dass wir uns angesichts dieser gewaltigen Veränderung tradierter Lebensformen als Demokratie und als Solidargemeinschaft „neue Selbstbeschreibungen und Weltbilder zulegen müssen“.

Lanier liefert dagegen eine profunde Analyse der aktuellen Trends in der Netzwerkökonomie, die sich in Richtung Totalüberwachung und Ausbeutung der Massen bewegt. Denn spätestens seit den Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden ist klar: Die „schöne neue Welt“ nimmt Gestalt an, und es wird höchste Zeit, ihr etwas entgegenzusetzen. Parallel zu Laniers Buch sollte man „Citizenfour“ ansehen, den bedrückenden Dokumentarfilm von Laura Poitras über Snowdens Enthüllungen. „Den Leuten ist überhaupt nicht klar, welche Gefahr von Big Data ausgeht. Big Data bedeutet, dass Computer weltweit Informationen über uns sammeln und daraus fragwürdige Statistiken erstellen. Mit einem Ziel: Um Vorhersagen darüber zu machen, wie man den meisten Profit aus uns schlägt, wie man jemanden am besten manipuliert.“

Lanier warnt vor drohender Hyperarbeitslosigkeit. Wie zu Gerhard Hauptmanns Zeiten die mechanischen Webstühle die Weber um Lohnund Brot brachten, bräuchten wir dank Software bald keine Berufskraftfahrer mehr, keinen Einzelhandel, immer weniger Dienstleistungen: „Genau diese Dynamik können wir in allen Bereichen beobachten, die von Software übernommen werden. Man braucht die Menschen noch als Datenlieferanten und Konsumenten. Ansonsten kann man so tun, als brauche man sie nicht mehr. Und bezahlt werden sie auch nicht. Und genau da passiert der entscheidende Fehler.“

Lanier wird allerdings fälschlicherweise als Vater des Begriffs „virtuelle Realität“ bezeichnet,auch wenn er relativ früh die technische Machbarkeit gesehen hat. Die ARD will das nicht wahrhaben, rückt stur den Satz auf die Webseite von ttt: „Der amerikanische Computerwissenschaftler hat den Begriff der ‚virtuellen Realität‘ erfunden und lehrt an der University of California in Berkeley.“ Kritiker der Friedenspreisverleihung nannten Laniers vermeintliche „Wandlung vom Silicon Valley-Saulus zum skeptischen Paulus“ eine „Journalistenfantasie“; der Amerikaner sei „immer Teil der Computerindustrie“ gewesen, auch heute noch.

Laniers Lösung: „Schluss mit der Umsonst-Mentalität“, denn die nütze nur den Konzernen. Vielmehr soll jeder durch ein Internet ohne Einbahnstraßen, durch sogenannte Zweiwege-Links, die zurück auf den Urheber verweisen, für seine Daten auch Geld bekommen. Denn wenn Facebook mit den Fotos und Nachrichten seiner Nutzer Profit mache, müssten eben diese Nutzer dafür auch entlohnt werden. Jaron Lanier: „Diese Methode ist ganz simpel und kann automatisch funktionieren. Der Input wird honoriert. Nicht ein einzelner Boss entscheidet, ob und wie viel ein einzelner Nutzer bekommt. Man muss es nur machen. Viele werden sich beschweren, aber irgendwo müssen wir anfangen. Es könnte dafür sorgen, dass die Mittelschicht nicht ausblutet und wir eine Gesellschaft schaffen, die fit für die Zukunft ist.“

Die  Bücher: