TTIP verdirbt Junckers Geburtstagsparty

Eine Million Unterschriften gegen TTIP

Jean-Claude Juncker - Foto © EP

Jean-Claude Juncker – Foto © EP

Jean-Claude Juncker wird am heutigen Dienstag (09.12.2014) 60 Jahre alt: Pünktlich zu seinem Geburtstag überreichen 60 „Stop TTIP„-Aktivisten dem Kommissionspräsidenten eine gigantische Grußkarte – unterschrieben von über einer Million Gegnern des Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA – berichtet das Internet-Portal EurActiv.de.

Zu seinem 60. Geburtstag erhält EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker ein Geschenk von den Gegnern des geplanten transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP: Die von 320 NGOs initiierte europäische Bürgerinitiative Stop TTIP hat Stop TTIP - logovor wenigen Tagen die Schwelle von einer Million Unterschriften überschritten – die wichtigste formale Voraussetzung einer erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative (EBI).

Gerade mal drei Monate ist es her, dass die EU-Kommission die EBI gegen TTIP ablehnte. Die Begründung: Das Verhandlungsmandat zu TTIP sei kein Rechtsakt, sondern ein interner Vorbereitungsakt. Diesen könne die Bürgerinitiative nicht anfechten. Außerdem stellte die Kommission fest, dass Europäische Bürgerinitiativen nur den Abschluss von internationalen Verträgen fordern dürften, aber nicht deren Verhinderung.

Weil dies jedoch nirgendwo steht, und weil der Lissaboner Vertrag nicht zwischen internen Rechtsakten und Rechtsakten mit Drittwirkung unterscheidet, klagt Stop TTIP vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die Nichtzulassung und sammelte bis zum Abschluss des Verfahrens Unterschriften auf eigene Faust.

Streitpunkt Investorenschutz

Hauptkritikpunkt der TTIP-Gegner ist das Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren (ISDS), womit gesonderte Schiedsgerichte Investoren vor staatlicher Willkür im jeweils anderen Wirtschaftsraum schützen sollen. Die Aktivisten beklagen die mangelnde Transparenz schiedsgerichtlicher Verfahren und befürchten, dass private Firmen mit dem Drohpotential hoher Schadensersatzklagen im Rücken indirekt Einfluss auf die Politik nehmen könnten, häufig sogar mit dem Ziel ganze Gesetze zu kippen.

Befürworter des ISDS glauben, dadurch die Einhaltung der vertraglichen Regeln des Freihandelsabkommens garantieren zu können. Denn die Schiedsgerichte bieten Parteien, die den Vertrag nicht unterschrieben, einen unabhängigen Lösungsmechanismus.

Es gibt eine Reihe von Fachgremien, die Schlichtungen durchführen. Die Verfahren werden normalerweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt. Sie enden oft mit der Einigung der Streitparteien, und nicht in formellen Entscheidungen des Schiedsgerichts. Solche Entscheidungen werden dann getroffen, wenn sich die Streitparteien nicht einigen können.

Bereits in den sechziger Jahren wurden Investor-Staat-Schlichtungsklauseln in Investitionsabkommen aufgenommen. Dennoch kamen Schiedsgerichte erst in den letzten zwanzig Jahren so richtig auf. Seither gab es mehr als 1.500 internationale Handelsabkommen mit ISDS-Klauseln. 500 davon betrafen europäische Länder.

Fast ein Drittel der ISDS-Verfahren gewannen Investoren

Von 247 abgeschlossenen Streitfällen bis Ende 2013 wurden ungefähr 43 Prozent zugunsten des Staates und 31 Prozent zugunsten des Investors entschieden. Die restlichen 26 Prozent der Fälle konnten beigelegt werden, so die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD). Bisher gab es noch keinen ISDS-Streitfall zwischen den USA und einem EU-15-Land. Allerdings gab es einige Streitfälle zwischen US-Investoren und Mitgliedsstaaten, die der EU nach 2000 beitraten.

Die Nichtregierungsorganisation (NGO) Friends of the Earth veröffentlichte in der letzten Woche ihre Recherchen über 127 bekannte ISDS-Streitfälle, die seit 1994 gegen Mitgliedsstaaten der EU vorgebracht wurden. „Der Gesamtbetrag, der ausländischen Investoren zugesprochen wurde – inklusive Zinsen, Schlichtungsgebühren, und anderer Ausgaben und Gebühren, sowie der einzigen bekannten Abfindungszahlung, die ein Mitgliedsstaat leisten musste – war für 14 der 127 Streitfälle (11 Prozent) öffentlich zugänglich und beträgt 3,5 Milliarden Euro“, sagt Friends oft he Earth.

Diese Klauseln würden es Großkonzernen ermöglichen, Regierungen zu verklagen, wenden ISDS-Gegner ein. Dadurch könnten Unternehmensinteressen den souveränen Willen demokratischer Staaten anfechten. Gewerkschaften, Verbrauchergruppen und Umweltschützer laufen Sturm gegen das Abkommen. Die Mitte-Links-Fraktionen des Europaparlaments, darunter die sozialdemokratische S&D-Fraktion, stimmten dagegen. Dasselbe gilt für das französische und niederländische Parlament.

Schiedsgerichte als Bedrohung für Anordnungen und Gesetze?

2014 Auf der A3 gesehen: „TTIP ist böse“ – Foto © Johanna Hofmann für Agentur Zukunft

Die Gegner berufen sich unter anderem auf das laufende Schlichtungsverfahren des Tabakriesen Philip Morris gegen Uruguay und Australien. Dabei geht es um Warnungen vor Gesundheitsrisiken auf Zigarettenpackungen. Ein anderer, viel beachteter Streitfall ist die Schadensersatzforderung des schwedischen Energieriesen Vattenfall (ICSID Case No. ARB/12/12). Deutschland soll aufgrund des Regierungsbeschlusses, aus der Atomenergie auszusteigen, nach unterschiedlichen Meldungen zwischen 3,7 und 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz zahlen.

Berlin: (hib/HLE) Um die vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall eingereichte Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Atomausstiegs geht es in einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke (18/3434). Bei der Klage handelt es sich um ein sogenanntes Investor-Schiedsverfahren. Die Bundesregierung soll angeben, wie Vattenfall die Höhe der Klageforderung von 4,675 Milliarden Euro begründet. Die Bundesregierung soll auch mitteilen, ob die von Vattenfall geforderte Verzinsung der Klageforderung angesichts der Niedrigzinsphase gerechtfertigt ist und welche Kosten für Rechtsanwälte und Gutachter bisher anfielen. Gefragt wird weiter, ob auch der Energieversorger E.ON durch einen Erfolg der Klage von Vattenfall Entschädigungszahlungen erhalten würde.

BusinessEurope vertritt die Interessen der europäischen Arbeitgeberverbände. Die Gruppe erklärt in einer Mitteilung zu ISDS: „Unter gar keinen Umständen bedeutet ein Urteil unter dem ISDS die Rücknahme eines Gesetzes, einer Verordnung oder irgendeiner anderen Maßnahme, sogar bei Streitfällen, bei denen ein bestimmtes Gesetz, eine bestimmte Verordnung oder Maßnahme als Bruch des bilateralen Abkommens aufgefasst wurde“.

Die Gegner führen die Forderung von Philip Morris nach einer Rücknahme oder Aussetzung der australischen Verpackungsgesetze als Gegenargument an. Dieser Vorgang zeige, dass die Argumentation BusinessEuropes nicht stimme, so die NGOs. Allerdings kann der Fall Philip Morris (noch) nicht als Maßstab für Schiedsgerichte gelten, denn der Streitfall mit Australien ist noch nicht abgeschlossen.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten geraten unter Druck, Risikotechnologien wie Fracking zuzulassen. Beispiel Fracking: Weil sie bereits Testbohrungen in Polen durchführt, könnte die US-Firma Chevron bereits die Grundlage für eine „Investition“ geschaffen haben. Die polnische Regierung bereitet derzeit eine Verordnung vor, die konkrete Umweltauflagen für Fracking definiert. Diese würde die Gewinnerwartungen von Chevron natürlich stark beeinflussen. Kein Wunder also, dass sich Chevron massiv dafür eingesetzt hat, dass Investor-Staat-Klagen Teil des TTIP werden. Allein die Androhung einer Investor-Staat-Klage wäre ein starkes Druckmittel auf den polnischen Gesetzgeber und könnte starke Auflagen verhindern. Auch andere EU-Mitgliedsstaaten könnten sich auf Klagen gefasst machen. In Deutschland etwa besteht derzeit faktisch ein Moratorium gegen Fracking. Der kanadische Bundesstaat Québec wurde wegen eines solchen Moratoriums in einer Investorenklage des US-Konzerns Lone Pine 250 Mio. US-Dollar Schadensersatz verklagt. (Mehr zum Thema Fracking & CETA hier)

Malmström: „Kein Staat darf dazu gezwungen werden, eine Maßnahme aufzuheben“

Handelskommissarin Cecilia Malmström macht immer wieder deutlich, dass ein von ihr abgeschlossenes Handelsabkommen ein Kriterium erfüllen muss. Es müsse klar sein, „dass ein Staat nicht dazu gezwungen werden kann, eine Maßnahme aufzuheben“.

Kritiker, die glauben, die Regierungen können durch Investoren mit Verweis auf die Schiedsgerichte herumkommandiert werden, wird das kaum besänftigen. „Selbst wenn die Schlichter die Staaten nicht dazu zwingen können, ein Gesetz zurückzurufen, das wird die Regierungen nicht davon abhalten, es ‚freiwillig‘ zu machen, wenn einmal eine milliardenschwere Klage eingereicht oder angedroht wurde, um das Risiko einer hohen Strafe zu vermeiden“, schreibt die Aktivistengruppe Corporate Europe Observatory (CEO) in einem Bericht.

Das Mandat der Kommission sei bei diesem Problem unmissverständlich, sagte der portugiesische Minister für Europaangelegenheiten, Bruno Maçães: „Es [das Mandat] legt ganz klar fest, dass die Einbeziehung des ISDS in das Freihandelsabkommen die öffentlichen Befugnisse zur Regulierung der Bereiche Gesundheit, Arbeitsstandards, Sicherheit und Umwelt im öffentlichen Interesse niemals antasten wird“, so Maçães. „Die hohen Standards in diesen Bereichen sind für die EU von Wert. Sie sind der Grund, warum Investoren in die EU investieren wollen; sie zu gefährden, wäre dumm.“

Stop TTIP – Titelseite

Nationale Gerichtshöfe oder Schlichtungsverfahren?

ISDS-Kritiker glauben, dass die „unabhängigen“ Schlichter vor allen Dingen Investoren zufrieden stellen wollen. Ein Investor-Staat-Schiedsgericht neige deshalb bei einem Streitfall zur Unterstützung der Investorenseite.

Schlichter seien letztendlich „Richter zum Mieten“. Ihre Verdienste würden von ihrer Bezahlung abhängen, heißt es in dem CEO-Papier. Das Ganze geschehe „in einem System, in dem nur Investoren Klagen einreichen können, das schafft einen starken Anreiz, sich auf ihre Seite zu schlagen – da investorenfreundliche Urteile den Weg zu weiteren Klagen und damit zu weiteren Ernennungen und Einkünften für die Richter ebnen“, so das Papier weiter.

„Diese privaten Gerichte setzen sich aus drei gewinnorientierten Schlichtern zusammen, die ihre Entscheidungen hinter verschlossenen Türen bekannt geben und oft Interessenskonflikten unterliegen, da sie ein wirtschaftliches Interesse daran haben, das System aufrecht zu erhalten und sie arbeiten oft auch für das Unternehmen, das die Klage einreicht“, sagt auch Friends oft the Earth.

Alles begann mit einem kleinen Protest gegen das Freihandelsabkommen. Mittlerweile ist das Ganze ein großer Streit zwischen ISDS-Befürwortern und Gegnern. Die einen sehen darin ein Instrument zum Schutz der Investoren, die anderen sehen darin Möglichkeiten für multinationale Konzerne zur Unterwanderung nationaler Gesetze.

Kommission startete Konsultation

Die Kommission startete eine Konsultation zu dem Thema. Anfang 2015 will sie einen Bericht dazu veröffentlichen. Darin will sie auch das weitere Vorgehen erläutern. Bereits jetzt kündigte Malmström an, die öffentliche Kritik ernst zu nehmen und bestimmte Teile von TTIP zu reformieren.

Eine Verbesserung des ISDS-Vorschlags gilt als sicher. ISDS sei nicht transparent genug, sagt Leopoldo Rubinacci, Leiter der Abteilung Investmentpolitik in der Generaldirektion Handel der Kommission. Auch sei es ein Problem, dass die Entscheidungen des Gerichts nicht berufungsfähig sind.

ISDS: Auch in den USA ein Problem

Das ISDS ist auch in den USA ein Problem. Daraus sollte Jean-Claude Juncker Trost ziehen. Denn auf US-Seite läuft es genau umgekehrt. Man hat Angst, europäische Unternehmen könnten den Schlichtungsprozess zum Schaden ihrer US-Pendants ausnutzen. Auch in den USA müssen sich die politischen Entscheider des Problems annehmen. Die Amerikaner brachten erst kürzlich ihren ISDS-Regulierungsrahmen auf den neuesten Stand. Dieser Prozess begann 2009 unter umfassender öffentlicher Konsultation und wurde 2012 abgeschlossen.

So sollten die Abläufe verbessert werden. Man wollte ein Gleichgewicht zwischen Investorenschutz und dem Vorrecht der Regierung auf Regulierung im öffentlichen Interesse hergestellt werden, sagt Elena Bryan, hochrangige Handelsrepräsentantin in der US-Vertretung bei der EU. Das neue US-Modell führt einen Mechanismus zur besseren Beteiligung Dritter am Schlichtungsprozess ein. Damit soll mehr Transparenz geschaffen werden.

Die EU-Kommission könnte das in ihren Schlussfolgerungen berücksichtigen. Diese Schlussfolgerungen werden mit einer beträchtlichen politischen Diskussion konfrontiert. Nach der Veröffentlichung des Kommissionsberichts wird eine neue Konsultationsrunde mit dem Europaparlament beginnen. Dort gibt es weiterhin erheblichen Widerstand dagegen.

Europaabgeordnete haben verschiedene Ansichten zum ISDS

Dennoch scheint es Möglichkeiten für einen Kompromiss zu geben. Die sozialdemokratische S&D-Fraktion will ISDS aus dem Freihandelsabkommen entfernt haben.

„Der ISDS-Mechanismus hat dort, wo er angewendet wird, gezeigt, wie viel Macht Unternehmen im Namen des Profits ausüben. Die EU […] muss ISDS aus den Freihandelsabkommen mit Kanada und mit den USA streichen“, fordert Gianni Pittella, der Vorsitzende der S&D-Fraktion.

Einige Kollegen haben eine differenziertere Meinung. Etwa die italienische sozialistische Abgeordnete Alessia Mosca: Sie finde es schade, dass Öffentlichkeit und Medien die möglichen Vorteile des Freihandelsabkommens und des ISDS unterschätzten.

„Der entscheidende Punkt ist nicht, ob ISDS kommt oder nicht, sondern in welcher Form wir das Verfahren einführen“, so Mosca. Ihrer Meinung nach „muss das Verfahren modernisiert und auf den neuesten Stand gebracht werden, damit es ein besseres Gleichgewicht zwischen Investorenschutz und demokratischer Regulierung gibt.“ Sie sei aber zuversichtlich, dass die EU-Institutionen und die Zivilgesellschaft das ISDS gemeinsam in das 21. Jahrhundert bringen könnten.