Pandemie und Föderalismus: Auswege aus dem Verfassungsdilemma

Die Ministerpräsidentenkonferenz hat keine Legitimation – von Ulrich Benterbusch

Mittlerweile pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Der deutsche Föderalismus ist mit der Bewältigung der Corona-Pandemie überfordert. Konferenzen der Bundeskanzlerin mit den MinisterpräsidentInnen (MPK) sind nicht in der Lage, die Krise überzeugend zu managen. Warum?

Dafür gibt es zwei Gründe: der Zwang zum Konsens und die fehlende Legitimität der MPK.

Die Konferenzen entscheiden einstimmig. Formal hat in der MPK die Stimme der Kanzlerin genauso viel Gewicht wie die des Bremer Bürgermeisters. Dies wird zwar durch die Presseauftritte ein wenig kaschiert, hier darf die Bundeskanzlerin als erste die Ergebnisse erläutern, wie es die Bürgerinnen und Bürger auch erwarten. Und sicher hat das Wort der Kanzlerin in den Diskussionen mehr politisches Gewicht als das des Bürgermeisters. Aber die Ergebnisse einer MPK sind aufgrund des Zwangs zur Einstimmigkeit nur Beschlüsse auf kleinstem gemeinsamen Nenner  –  ganz offensichtlich.

Was den ganzen föderalen Schlamassel aber noch schlimmer macht: Den Beschlüssen und Entscheidungen der MPK fehlt jede Legitimation und damit rechtliche Bindungswirkung. Zugegeben: Ein Landesfürst kann nach der Entscheidung der MPK nicht machen, was er will, aber niemand kann ihn zwingen, den Beschluss 1:1 umzusetzen. Es ist absurd, aber im Kern hat die Bundeskanzlerin bei den MPK formal weniger Macht als Kaiser Karl V. vor 500 Jahren auf den Reichstagen gegenüber den Reichsfürsten. Auch dort wurde viel debattiert, einstimmig beschlossen, und zu Hause machte dann doch jeder (bis zu einem gewissen Grad), was er wollte. Aber immerhin gab es gültige Verfahrens- und Entscheidungsregeln und damit legitimierte Beschlüsse.

Das ist bei der MPK anders: Ein Beschluss der MPK kann einen deutschen Landesfürsten im 21. Jahrhundert nicht binden. Er gibt sein Wort als Gentleman, dass er sich daran hält. Denn ein Blick ins Grundgesetz zeigt: Die MPK gibt es dort gar nicht. Sie ist im Gegensatz zum Bundesrat kein offizielles Verfassungsorgan und nicht an der Gesetzgebung des Bundes oder der Länder beteiligt. Deshalb sind ihre Beschlüsse rein informeller, nicht-bindender Natur und müssen erst durch Gesetzgebungsverfahren in den Ländern umgesetzt werden, um eine Legitimationsgrundlage zu erhalten. Was im Fall COVID-19 nicht immer geschieht.  Alle Beschlüsse und Entscheidungen werden mithin in einem verfassungsrechtlichen Nirwana getroffen. Es ist fast überraschend, dass erst die dritte Coronawelle dieses Dilemma für alle sichtbar gemacht hat, weil das Unvermögen, kohärent und konsistent die Krise zu bekämpfen, die Bundeskanzlerin zur Ruhetagsentschuldigung zwang und im Nachgang auch die Länderchefs realisierten, dass sie mit ihrem Latein am Ende waren.

Der Vorwurf, den die politisch Verantwortlichen sich gefallen lassen müssen, besteht darin, davon ausgegangen zu sein, die Krise im Rahmen der MPKen managen zu können. Zugegeben: Heute ist es evident und alle sind irgendwie in diese Lage hineingeschliddert, aber ein Instrument, das unter normalen Bedingungen gut geeignet ist, den föderalen Informationsaustausch zu befördern und Entscheidungen höchstens vorzubereiten, kann eben nicht plötzlich zum zentralen Entscheidungsinstrument in einer einzigartigen Krise mutieren. Das Unwohlsein mit diesem Instrument haben inzwischen ja auch viele TeilnehmerInnen der Konferenz öffentlich gemacht. Nur: Wie können Reformansätze aussehen?

Es ist das Wesen der Demokratie, dass Entscheidungen durch Parlamente und Regierungen ordentlich „beglaubigt“ sind. Dafür bedarf es durch die Verfassung legitimierter Verfahren, denn Legitimation entsteht durch Verfahren (Niklas Luhmann). Die üblichen Regeln der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern sind zu schwerfällig – hier geht es vor allem um Gesetze , die Zeit zur Beratung brauchen, d. h. auf diesem Weg kann es keine schnelle Lösung geben, denn so sehr auch die Rolle der Parlamente in einer Krise überdacht werden sollte, das Management und die erfolgreiche Bewältigung der Krise sind vor allem Aufgaben der Exekutive  – also der Bundesregierung und der Länderregierungen.

Das Grundgesetz enthält mit dem Artikel 91a einen Artikel, der die  Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben regelt, und der für die Lösung der aktuellen Verfassungsproblematik eine Blaupause bietet. Die Idee hinter diesen Gemeinschaftsaufgaben ist einfach – die Länder können diese Aufgaben nicht allein bewältigen. Gleichzeitig sind es aber Länderaufgaben, die unter Art. 91a geregelt werden –  nämlich die Gemeinschaftsaufgabe der Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sowie die der Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Voraussetzung für die Mitwirkung des Bundes im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben ist es, dass die jeweilige Aufgabe für die Gesamtheit bedeutsam und die Mitwirkung des Bundes für die Bewältigung der Aufgabe erforderlich ist. Wer wollte bestreiten, das die Mitwirkung des Bundes bei der Bewältigung der Pandemie erforderlich und die Aufgabe für die „Gesamtheit“ bedeutsam ist?  Um bei der Umsetzung der Gemeinschaftsaufgaben Entscheidungen zu treffen, haben sich Bund und Länder Ende der 60er Jahre auf eine pfiffige und faire Entscheidungsregel geeinigt: In dem von beiden Seiten zu besetzenden Gremium werden Entscheidungen mit Drei-Viertel-Mehrheit getroffen, wobei der Bund die Hälfte der Stimmen hat und die andere Hälfte die Länder. Praktisch heißt dies: Keine Seite kann die andere überstimmen. Es gibt also keinen Zwang zum Konsens auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, und gleichzeitig kann keine der beiden Seiten die jeweils andere dominieren, vielmehr fördert diese Entscheidungsregel den sachgerechten Kompromiss.

In nationalen Krisen wie einer Pandemie müssen die Exekutiven auf Bundes- und Länderebene –  z. B. im Rahmen eines Bund-Länder-Krisenstabes –  zusammenarbeiten und dort gemeinsam die notwendigen Entscheidungen treffen und verantworten. Aber dafür  wäre eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich. Dabei ist klar: Eine solche Reform garantiert kein besseres Politikergebnis – aber die Verantwortlichkeiten wären  viel klarer, die in einem solchen Krisenstab getroffenen Entscheidungen würden von einer breiten Mehrheit aus Bund und der Mehrheit der Länder getragen und verantwortet – und könnten dann auch  eher in der Öffentlichkeit überzeugen. Sicher, die Länder müssten in einer nationalen Krise auf etwas Entscheidungsautonomie verzichten, aber gewinnen würden sie auch – denn die größeren Bundesschultern könnten und müssten dann auch verfassungsrechtlich gestützt politisch sichtbar mehr Verantwortung für die Krisenbewältigung tragen. Die Durchführung der zur Bekämpfung der Krise erforderlichen Maßnahmen sollte natürlich wie bisher bei den Ländern liegen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen  Diskussion über ein neues Bundesgesetz mit neuen bundesrechtlichen Kompetenzen im Rahmen des Infektionsschutzes  würde eine Lösung in Analogie zu den Gemeinschaftsaufgaben die Möglichkeit bieten, die Verantwortung für die Maßnahmen in der Krise politisch gemeinsam zu tragen. Dies würde den Föderalismus im guten Sinne stärken und nicht schwächen.  Die Zeit für Änderungen mag aufgrund der notwendigen Mehrheiten angesichts der bevorstehenden Wahl zu kurz bemessen sein. Aber: Es wäre höchste Zeit!

Ulrich Benterbusch: Nach Positionen im Bundeswirtschaftsministerium, im Bundeskanzleramt, der Internationalen Energieagentur in Paris und als Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (dena) ist Ulrich Benterbusch stellvertretender Abteilungsleiter im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, zuständig u.a. für Energieeffizienz, nationale Wasserstoffstrategie und Wärmewende. In den 90er Jahren hat er als Referent für die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ gearbeitet, damals eines der zentralen Förderinstrumente für die Wirtschaft in den neuen Bundesländern.