„Rationalität neu bestimmen und Mühen einer neuen Aufklärung auf uns nehmen“

Buch von Peter Finke: „Mut zum Gaiazän. Das Anthropozän hat versagt“

Am 28. 01.2022 jährt sich der Todestag des Nobelpreisträgers Paul J. Crutzen (1933–2021) zum ersten Mal. Er gilt als Namensgeber des Begriffs Anthropozän – einer Epoche, in der sich der Mensch aufgemacht hat, die Erde nach seinen Bedürfnissen zu nutzen, ohne die Grenzen ihrer Tragfähigkeit zu beachten. Doch so richtig diese Diagnose auch ist: um Begriff und Narrativ des „Anthropozän“ hat sich eine kontrovers geführte Debatte entwickelt. In seinem Buch „Mut zum Gaiazän. Das Anthropozän hat versagt“, das am 03.02.2022 im oekom verlag erscheint, meldet sich der Kulturkritiker und Wissenschaftsforscher Peter L. W. Finke zu Wort und fordert sein schnelles Ende.

Crutzen hat recht, wenn er die unbescheidene Jetztzeit als ein neues Zeitalter bezeichnet, doch er hat die bequeme Mutlosigkeit der anthropozentrischen Wissenskultur unterschätzt, sagt Peter Finke: „Das Anthropozän hat sich zu einer arroganten Ideologie entwickelt, statt an Götter glauben wir heute an den Markt und an uns selbst!“ Im Zentrum seiner Kritik steht unser verantwortungsfreies, in viele Teile zerlegtes Wissen sowie eine männerdominierte, technologiehörige und fortschrittstrunkene Wissenschaft – sie wieder zu einer Hoffnungsträgerin zu machen, lautet das Gebot der Stunde. Dazu muss sie sich gründlich erneuern, indem sie u.a. den Sinn der Vielfalt wiederentdeckt, die Kraft der Frauen nutzt, die kritische Kreativität der Zivilgesellschaft begrüßt und die Würde und Rationalität der durch uns gedemütigten indigenen Kulturen anerkennt.

In „Mut zum Gaiazän“ fordert Peter Finke, über Sprache, Logik, Wissen, Handeln, Macht, Rationalität und Realität neu nachzudenken und lotet diesen Weg in Richtung eines bescheideneren Gaiazän aus. Es wäre das bessere Menschenzeitalter, auch für unsere Mitlebewesen.

Finke einleitend: „Die ersten fünf Kapitel dieses Buches sind den Gründen gewidmet, warum das Anthropozän so ist, wie es ist: europäisch geprägt und bequem. Der Blick richtet sich in die Vergangenheit und auf die Gegenwart der Wissenschaft. Verschiedene Entscheidungen, die in eine Zeit zurückreichen, als die Erde noch vergleichsweise menschenarm und fast unbekannt war, haben zu dem geführt, was wir heute so nennen. Aus meiner Sicht waren es Fehlentwicklungen, die das bekannte Einfache dem unbekannten Komplexen vorzogen: eine Grenze auf eine Linie zu reduzieren, Wissen vom Handeln abzutrennen und als bessere Alternative zum Glauben zu beschreiben. So kam es, dass man eine zweiwertige Logik und eine nutzenorientierte Ethik entwickelte, die bis heute den Alltag und die übliche Wissenskultur beherrschen. Das quantitative Denken wird seither dem qualitativen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik vorgezogen, weil es einfacher zu überprüfen ist. Und so kam es auch, dass die wirkliche Bedeutung von Ungewissheit, Zusammenhängen und Vielfalt nicht erkannt wurde und statt ihrer trügerische Gewissheit, grenzenlose Spezialisierung und kurzsichtige Nützlichkeit die Richtung bestimmen. In der Natur bezahlen unsere Mitorganismen dafür immer deutlicher erkennbar mit dem Leben, in der Kultur ist es vor allem die Sprachenvielfalt, die wir dem gleichen Schicksal ausliefern. Die heutige Wissenschaft ist das Beste, was wir haben, aber sie ist bisher nicht gut genug, um uns und den Mitbewohnern der Erde das Überleben zu sichern. Sie ist zukunftsunfähig, denn sie leidet unter Wirklichkeitsverlusten. Wir müssen Rationalität wohl noch einmal neu bestimmen und die Mühen einer neuen Aufklärung auf uns nehmen.“

Wer ist jetzt ‚dran‘?“

Zum Abschluss dieser Übersicht der Schluss des ersten Kapitels des Finkeschen Buches im Wortlaut. Dort greift er den Titel des Club-of-Rome-Buches „Wir sind dran“ auf: „Nur für Schwieriges gibt es Geld …, die Unterscheidung von wirklich und nicht wirklich ist angeblich viel zu banal. Dabei gäbe es für solche Gespräche viel wichtigere, aktuellere Themen. Zum Beispiel all das aufzuzählen, was wir falsch machen und zu fragen, warum. Unsere Sprechweisen haben viel damit zu tun. Wir reden zum Beispiel großmäulig von ‚Welt‘, über Weltliteratur, Weltpolitik oder Weltraumfahrt, wenn wir nur die Literatur anderer Länder, Außenpolitik oder das knappe Verlassen der Atmosphäre mit einer Rakete meinen. Die Erde würde reichen.
Wir nennen viele Länder ‚Schwellen-‚ oder ‚Entwicklungsländer‘, weil sie noch nicht so sind wie wir, die wir uns ‚entwickelt‘ und ‚hochstehend‘ vorkommen. Wir sind auf ihre Bodenschätze und andere Ressourcen angewiesen und nennen unser diesbezügliches Treiben den ‚freien Welthandel‘. Wir geben ihnen großzügig ‚Entwicklungshilfe‘, nachdem wir viele von ihnen zuvor kolonialistisch und rassistisch gedemütigt und ihnen unsere Wertvorstellungen mit Gewalt aufgenötigt haben. Wir tun es noch immer, nur jetzt geschönter, eleganter.
Man könnte das lange fortsetzen: Wir halten uns für ‚Wissensgesellschaften‘, sind dies aber vor allem im Vergleich zum Mittelalter, als noch die Religion das Sagen hatte. Wir reden zunehmend nur noch Englisch und bezeichnen das als ‚Internationalität‘. Wir streben nach Macht und beschönigen dies mit Worten wie ‚Partizipation‘ und ‚Mitbestimmung‘. Wir lassen alle paar Jahre Parteien wählen und nennen es ‚Demokratie‘. Wir sind gegen die Mythen der Vergangenheit, aber nicht gegen ‚Geld‘, ‚Wohlstand‘, ‚Markt‘ oder auch ‚Elite‘. Wir meinen, dass wir Vermittler brauchen und erhalten ‚Medien‘. Wir glauben nicht mehr an die alten Götter, sondern an neue: den ‚Fortschritt‘, die ‚Leistungsträger‘, das ‚Internet‘, kurz: an uns selbst und unsere Großartigkeit. Und so weiter.
Differenzierende Rationalität wäre zwar möglich, aber sie ist uns meistens zu mühsam. ‚Die Vögel waren heute morgen vielleicht wieder laut!‘ sagen viele und meinen, der so gefürchtete ‚Stumme Frühling‘ sei widerlegt. Dass alle Sänger fast nur noch Amseln und einige andere Ubiquisten sind, merken sie gar nicht, die verlorenen Sänger hören sie sowieso nicht. Das bequeme Einfachurteil reicht. So ist das Anthropozän, längst mehr Ideologie als Erdzeitalter, scheinbar menschenfreundlich, tatsächlich lebensbedrohend – ein einziger Irrtum. Odile Beauchamps hat damals etwas in mir aufgeweckt, den Klebstoff gelöst, der mich in einem Traum festhielt: verstanden zu haben, was Rationalität und Realität bedeutet. Ich hielt die Wissenschaft, die mich umgab, an die ich glaubte, für das Beste, was erreichbar wäre. Das war es nicht. Es war das Beste, was wir bisher erreicht haben, ein Unterschied. Vor eine ja-nein-Alternative gestellt, würde ich mich immer für sie entscheiden. Auch im Anthropozän ist sie sicher nicht komplett schlecht, weder gänzlich irrational, noch gänzlich irreal. Doch sie war – und ist – noch immer verbesserungsfähig und verbesserungsbedürftig. Der menschengemachte Klimawandel, den sie konstatiert, ist wahrscheinlich gegeben; unsere Wissenschaft ist durchaus leistungsfähig. Es ist gut, sich an ihre Rationalität zu halten, aber die ganze Realität beschreibt sie dennoch nicht. Der Traum ist zum Alptraum geworden. Also wachen wir auf! W i r sind dran!
Als das Club-of-Rome-Buch dieses Titels erschien, war ich längst aufgewacht. Ich hatte bereits Vorträge über den nötigen Wandel gehalten und einige Aufsätze darüber geschrieben. Im Computer stapelten sich mögliche Buchentwürfe und -gliederungen. Aber ‚Wir sind dran‘ gab dann den Ausschlag: An der Neuen Aufklärung mitzuarbeiten, weil es nicht ausreicht, wenn man die immer noch wenigen kritischen Natur- und Wirtschaftswissenschaftler mit den Problemen allein lässt. Sie bemühen sich nach Kräften, aber es hapert fast überall. Es fehlt zum Beispiel – auch in jenem Buch – der kenntnisreiche Blick auf Sprachen und Kulturen, die der Völker, aber auch die des Wissens und unserer Wertvorstellungen, die das Anthropozän mitgeformt haben und heute weiter stabilisieren. Es geht nicht nur um den menschengemachten Klimawandel, der jetzt zu Recht viele aufregt und für sie zum Synonym für die Gegenwartskrise wird. Vielfaltsverlust ist nicht nur ein Problem der Biodiversität. Die ganze kulturelle Ebene kommt zu kurz. Auch die Rede von einer ‚Aufklärung 2.0‘ in jenem Buch gefällt mir nicht. Das ist Computersprech, etwas, das uns am Anthropozän festschweißt wie mit Pattex, dem Klebstoff aus der Tube. Und doch war es für mich dieses Buch, was ihn ganz löste.
Wir verbrauchen davon zu viel. Es dämmert langsam die Befürchtung, dass ein zusammengehöriges Ganzes verloren gegangen ist, das wir in sehr viele kleine Teile zerlegt, aber nun notdürftig wieder zusammenkleben. Lange haben wir das nicht als Verlust empfunden; ‚Analyse‘ war ein Begriff, der zunächst nur einen guten Klang hatte. Doch diese Zeit scheint zu Ende zu gehen, der Klebstoff geht zur Neige, wir verlieren die Ganzheiten: Das ‚Wetter‘ ist eine davon; meist geht uns nur um Sonne, Regen und Wind. Das ‚Klima‘ wäre eine neue, aber es überfordert uns, wir reduzieren sie auf Unwetter, Starkregen oder Stürme. Die ‚Innenstadt‘, die ‚City‘, ist eine solche Ganzheit; doch der Verbund ihrer bisherigen Kohäsionskräfte (Einkaufen-Verkehr-Wohnen) löst sich dort auf. Fast überall ist jetzt die Rede von ‚Systemen‘, weil wir zuvor das Zerlegen in Teile bis zum (Z)Erbrechen übertrieben haben. Die Pattexmentalität ist zum Bestandteil der Ideologie des Anthropozän geworden, wir sehnen uns nach Heilung der Wirklichkeitsverluste, die wir lange verdrängt haben. Ahnungen wachsen: Unsere Vorfahren haben offenbar viel falsch gemacht, aber noch machen wir es nicht entscheidend besser. Doch jetzt sind w i r dran, etwas zu ändern, damit wir hierbleiben können: auf der Erde. Wir müssen einen neuen Anlauf zur Aufklärung nehmen, einer Aufklärung, die diesmal die Wirklichkeitsverluste der alten zu reparieren versucht, in dem sie noch einmal bei grundsätzlichen Dingen ansetzt. Auch die Wissenschaft gehört dazu.

Können wir tatsächlich etwas von den Fröschen lernen?

Einer dieser Wirklichkeitsverluste, bei dem die ambivalente Rolle der uns umgebenden Wissenskultur besonders deutlich wird, betrifft unser Grenzdenken.
Grenzen sind für die meisten von uns Linien, die markieren, wo etwas zu Ende ist und etwas anderes beginnt. Die alten Zollschranken waren perfekte, wenigstens punktuell sichtbar gemachte Staatsgrenzen. Das ‚Bürgerliche Gesetzbuch‘ ist in Deutschland eine einzigartige Sammlung juristischer Zollschranken für das innerstaatliche Zusammenleben bis hin zum Gartenzaun. ‚Bis hierhin und nicht weiter‘ ist der Sinn solcher Grenzziehungen. Hier werden Linien im kulturellen Raum gezogen. Es sollte uns zu denken geben, dass es im natürlichen Raum solche Linien nicht gibt. Die Grenze eines echten Waldes – nicht eines Forstes – ist flächig: Säume aus niedrigeren Gehölzen, die in noch niedrigere Krautsäume übergehen, bis das offene Land erreicht ist. Wenn wir irgendwo durch den Wald eine Straße schlagen, stehen plötzlich unmittelbar neben ihr die hohen Bäume, die ins Waldinnere gehören. Für einen ordentlichen neuen Waldmantel gibt es meist kein Geld.
Die Ufer eines unverbauten Gewässers sind auch keine Linien. Auch sie sind Säume, die in Länge u n d Breite Platz brauchen; bei stehenden Gewässern genauso wie bei fließenden. Im Biologiebuch wird dies an einer Abfolge von Pflanzengruppen erläutert. Neben den Vögeln sind mir seit Kindertagen die Amphibien am nächsten, Frösche, Kröten und Molche. Sie sind Experten für die Grenzregionen zwischen dem Trockenen und dem Nassen: Bewohner des feuchten R a u m s dazwischen. Schon oft habe ich Vorträge gehalten mit einem Spielzeugfrosch neben mir auf dem Rednerpult. Auch die Linie, die den Berg vom Tal trennt, gibt es nicht. Der Berg beginnt ganz unten im Tal und dieses endet ganz oben auf dem Berg.
In der Kultur könnte manches besser gehen, wenn wir auch dort das linienhafte Grenzdenken zugunsten des Denkens in Übergangsräumen abschaffen würden. Doch im Zeitalter, das Digitalisierung für besonders modern hält, ist das natürlich schwierig. Wenige Grenzübergänge stellen wir wie Tore, die man öffnen und schließen kann, an Straßen bereit; den Rest nennen wir die ‚grüne Grenze‘, eine nur gedachte, aber geltende juristische Linie. Der rechte politische Populismus erwartet selbst innerhalb der eigenen Kultur nur Homogenität; alles ‚Fremde‘ wird bekämpft. Das ist wirklichkeitsfremd, der Tod jeder Kreativität, aller Lernanreize zum Lebendigerhalten des kulturellen Lebens.
Die Wissenskultur des Anthropozän hat sich für das populäre Vereinfachen entschieden, die Abschaffung des Analogen, die Einführung des Digitalen, der Grenze als Linie, die Neigung zum Populismus. Sie setzt auf technologische Lösungen für möglichst alle Probleme. Dort, wo es sie noch nicht gibt, setzt sie auf den Optimismus, dass wir sie wohl noch finden werden. Doch sie errichtet Barrieren für echte Kreativität. Ihr Wirklichkeitsverlust ist mit Händen zu greifen. Eschers Philosoph [Buchtitel] staunt und staunt. Vor lauter Staunen vergisst er das Nachdenken, wenn es schon fürs Vorausdenken nicht gereicht hat. Er zieht keine Schlüsse, vergisst das Lernen und unterlässt das Handeln. Er klebt auf seiner Bank am Nichtbewährten fest und findet sich in all seiner Dummheit großartig.
Wir könnten es besser machen und tatsächlich unter anderem auch etwas von den Experten für Grenzen lernen, den Fröschen. Ob wir das freilich wollen, weiß ich nicht. Es erscheint uns noch sehr absurd.“

Peter L. W. Finke war u.a. 25 Jahre lang Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld. Wissenschaft hat er zeitlebens als Beruf, aber auch als Ehrenamt betrieben. Er ist einer der deutlichsten Kritiker der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie, -praxis und -politik; mit seinem skeptischen Ansatz hat er sich auf den Gebieten der Wissenschaftsphilosophie, der theoretischen Linguistik, der Kulturtheorie und des Naturschutzes einen Namen gemacht, von der Sprach- und Kulturtheorie, der Wissenschaftsphilosophie bis hin zur ökologischen Ökonomie und zum Naturschutz.. „Mut“, sagt er, „ist dort eine leider wenig beachtete Kategorie.“

Vorwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker – „Wir sind dran“

„Ich möchte dem Anthropozän die Leviten lesen“, hat Peter Finke mir gesagt, als er erklärte, was er mit seinem Buch erreichen wolle. Meine Antwort war: „Mach das, es ist nötig.“ Das Wort Anthropozän ist noch ziemlich neu. Es beschreibt grausig realistisch die Tatsache, dass die Spezies Mensch heute unseren Planeten beherrscht. Selbst das Klima, der Meeresspiegel, die Erdbewegungen werden von der Menschheit verändert.
Das letzte Mal, dass eine einzige Spezies den Planeten Erde massiv verändert hat, war die Entstehung der Sauerstoffatmosphäre. Vor etwa 2,4 Milliarden Jahren entwickelten sich in einem evolutionären Prozess Cyanobakterien. Diese gaben den in ihrer Nahrung enthaltenen Sauerstoff gasförmig an die Atmosphäre ab. Dieses aggressive Gas reicherte sich zunächst nicht dort an, sondern ging zunächst im Meer chemische Verbindungen mit Metallen, Methan oder Kohlenstoff ein und es dauerte weitere Hunderte von Jahrmillionen, bis diese Potenziale der Sauerstoffbindung halbwegs erschöpft waren. Dann aber entstand – sehr langsam, aber sich vor etwa 700 Millionen Jahren intensivierend – die sauerstoffhaltige Atmosphäre. An diese mussten sich nun Einzeller, Pflanzen und Tiere schrittweise anpassen. Aber auch das geschah und der Reichtum der biologischen Arten nahm ständig zu. Lynn Margulis und James Lovelock haben dieses erstaunliche Phänomen in ihrer „Gaia-Hypothese“ vor gut 50 Jahren formuliert.
Die Auswirkungen von uns Menschen auf unseren Planeten und auf die biologische Vielfalt sind leider das Gegenteil von damals. Täglich verschwinden etwa hundert Tier- und Pflanzenarten auf Nimmerwiedersehen von unserer Erde. Das kommt daher, dass wir unersättlich immer mehr Landschaft unter den Pflug nehmen, um die rasant wachsende Erdbevölkerung zu sättigen und die ständig steigenden Konsumwünsche der Menschen zu befriedigen. Das Anthropozän ist für die nicht vom Menschen kultivierten Tiere und Pflanzen die reinste Katastrophe, weil unser „Kultivieren“ der Natur den Lebensraum wegnimmt. Einem derart destruktiven Erdzeitalter und seinen Verursachern muss man dringend die Leviten lesen. Das geht aber nicht durch primitives Geschimpfe. Wir müssen die Geistesgeschichte, die dahinter steht, begreifen. In einem sehr vereinfachenden Satz kann man sagen: Erst die Europäische Aufklärung hat die industrielle Revolution und später das Superwachstum ermöglicht, das zur heutigen Realität des Anthropozän führte. Bis etwa 1800 hat die Menschheit zahlenmäßig nur langsam zugenommen und blieb der Pro-Kopf-Wohlstand ungefähr konstant. Dann begann die industrielle Revolution und verdoppelte bis 1950 sowohl die Menschenzahl als auch den Pro-Kopf-Konsum. Doch erst nach 1950 kam es zur Wachstumsexplosion. Die Zahl der Menschen verdreifachte sich schnell und der Pro-Kopf-Konsum hat sich größenordnungsmäßig verzehnfacht.
Die Europäische Aufklärung war zunächst einmal eine phantastische Befreiung. Sie brachte uns eine neue Kultur der Wissenschaft, der Technologie, der Wirtschaft und der Politik. Die neue Politik war am sichtbarsten in der Französischen Revolution und der fast gleichzeitigen Verabschiedung der US-amerikanischen Verfassung. Technologie und Wirtschaft assoziiert man mit James Watts Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Schwerindustrie, der industriellen Massenfertigung von Textilien und anderen Konsumgütern und schließlich dem Frühkapitalismus.
Aber zeitlich und logisch davor stand noch die aufgeklärte Wissenschaft. Als Francis Bacon in seinem Novum Organon das genaue Hinschauen, die Empirie in die Wissenschaft einführte und René Descartes die Menschen als die Meister und Eigentümer der Natur bezeichnete, war das ein zivilisatorischer Umschwung zugunsten der Menschen. Auch Isaac Newton, Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau und viele andere prägten den Umschwung mit. In neuerer Zeit setzte sich als Methodik die Analytische Philosophie durch, bei welcher die Spekulation verpönt und das gedankliche und materielle Sezieren bis ins Kleinste als die Krönung der Wissenschaft aufgefasst wurde. Heutige Peer review-Publikationen, die die Grundsubstanz vieler akademischer Karrieren darstellen, stehen fast ausnahmslos auf dem philosophischen Boden dieser Sorte von Analyse. Anglo-amerikanische Zeitschriften und Universitäten setzen damit Maßstäbe, die weltweit zu respektieren sind.
Angesichts dieser Entwicklung dürfen wir Europäer nicht verschweigen, dass die Aufklärung bis tief ins 20.Jahrhundert hinein auch mit Kolonisierung, Rassismus und Machtergreifung auf der ganzen Erde einherging. Die Eroberer hatten subjektiv das Gefühl, die hochstehende Kultur oder auch das edle Christentum zu verkörpern und berechtigt zu sein, diese in die Welt zu tragen. Sklaverei und Ermordung von Menschen „niedriger“ Stämme waren Teil dieser Arroganz. Doch wenn man dem Anthropozän die Leviten lesen will, darf man heute auch die Kritik an der gnadenlosen Dominanz der Analytischen Philosophie nicht auslassen. Peter Finke kennt sie gut; er hat sich nur langsam von ihr gelöst. Hier liegt die wahre Stärke seines Buchs. Es geht deutlich über die bisherigen Darstellungen hinaus. Als Kontrast zum naiv verherrlichten Anthropozän schlägt sein Autor einen neuen Namen für die jene Zerstörung überwindende Moderne vor: das Gaiazän. Das wäre ein Erdzeitalter, das zwar sehr wohl immer noch von der Spezies Mensch geprägt ist, aber mit dem Raubbau an der Natur und der Arroganz der westlichen Zivilisation auch die Primitivität der Analytischen Wissenschaftsphilosophie überwindet.
Gaia steht für die Erde, wie es schon in der Gaia-Hypothese der Fall war. Der positive Teil der aufgeklärten Wissenschaft wird vielleicht bei Kant besonders deutlich: dass wir Menschen auch vernünftig handeln können. Was wir um der Ehrlichkeit willen natürlich nicht verschweigen dürfen ist die Tatsache, dass wir um des primitiven Nutzens willen das vernünftige Handeln gerne unterlassen. Auch die Wissenschaft nährt oft die Illusion der Gewissheit, obwohl eigentlich klar sein müsste, dass nur Details exakt sind, nicht das Ganze. Und sie betreibt nicht sehr aktiv die Aufdeckung teils lange zurückliegender, teils auch jüngerer, vermeidbarer, aber oft folgenreicher Irrtümer und Fehleinschätzungen. Daher ist dies auch das Buch einer Gratwanderung: Es kritisiert die heutige Wissenskultur hart, aber es ruft nicht zur Abkehr von der Wissenschaft auf. Das zu unterscheiden ist dem Autor und mir sehr wichtig. Peter Finke verteidigt sie, wo er kann. Er lehnt sie nicht ab, sondern freut sich über ihre Errungenschaften, doch er schätzt diese sehr viel bescheidener ein als viele andere. Es lohnt sich für auf Ehrlichkeit setzende Leserinnen und Leser, mit dem Autor mitzugehen, wenn er zeigt, dass sich Wissenschaft zwar um Wahrheit und Objektivität bemüht, diese aber nicht immer erreicht.
Gute Wissenschaft setzt auf Rationalität, nicht auf Rationalismus oder naiven Empirismus. Die moderne Menschheit hat von der Analytischen Philosophie viel gelernt, muss heute aber lernen, den Blick für deren Begrenztheit zu behalten. Peter wollte ein vergleichsweise lesbares Buch über eine komplexe Sache – die Notwendigkeit einer neuen Aufklärung – schreiben. Er wendet sich deshalb bewusst an ein breites interessiertes Publikum.
Wir beide gingen zu gleicher Zeit, aber in vier Jahre auseinander liegenden Jahrgängen auf das damals voll altsprachliche Göttinger Max-Planck-Gymnasium. Wiedergesehen haben wir uns erst 2019, nach sehr verschiedenen Lebenswegen. Aber wir kamen doch zu einer gemeinsamen Überzeugung: dass die Menschheit, wenn sie den im Anthropozän zu befürchtenden Untergang vermeiden will, auf ein ziemlich radikal anderes Denken umschwenken muss.
Wir meinen beide, dass Lynn Margulis und James Lovelock nicht ganz falsch liegen, wenn sie den Planeten Erde wie ein lebendes Wesen wahrnehmen. Das soll mit dem hier vorgeschlagenen Namen „Gaiazän“ zum Ausdruck gebracht werden. In unserem Club of Rome-Buch „Wir sind dran“ rufen Anders Wijkman und ich deshalb nach einer Neuen Aufklärung, die die Enge und Grausamkeit der utilitaristischen und kurzsichtigen Form der Europäischen Aufklärung abschüttelt. Wir laden dort dazu ein, sich hieran zu beteiligen. Als vor allem mit Wissen, Sprachen und Kulturen erfahrener Geisteswissenschaftler ergänzt Peter Finke jetzt unsere wirtschafts- und naturwissenschaftliche Argumentation um wichtige Aspekte, die wir dort nicht oder nur teilweise behandelt haben. Er spitzt das Problem zu Recht auf die Verantwortung unserer Wissenschaftskultur zu, die hinzulernen muss, wenn sie die Reparatur der gemachten Fehler anführen können soll. Und das ist im Sinne der Vernunft und der Erhaltung von Erde und Leben mehr als wünschenswert: Es ist notwendig.“

Peter Finke, „Mut zum Gaiazän. Das Anthropozän hat versagt“. Mit einem Vorwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker. 192 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-96238-366-4, Print 20 € / 20,60 € (A), PDF 15,99 € / 16,99 € (A)

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