DIW-Präsident zählt auf prominente Befürworter
Obwohl er der Politik gehörig die Leviten liest, loben die Gezausten nach Kräften sein Buch: Er „habe es mit großem Gewinn gelesen, es ist nicht besserwisserisch, Fratzscher macht konkrete Vorschläge“ sagte Wirtschaftsminister Gabriel bei der Vorstellung im Berliner DIW am 19.09.2014. Und EU-Kommissionspräsident im Wartestand Juncker sekundiert auf der Rückseite des Umschlags: Marcel Fratzscher baue „ökonomische und zugleich verständliche Buch-Brücken über den schmalen Fluss zwischen bundesrepublikanischen Illusionen und europäischen Visionen.“
Fratzscher, Wirtschafts-Professor und Präsident des Berliner DIW, will in seinem Buch mit drei Illusionen aufräumen:
- „dass die wirtschaftliche Zukunft gesichert sei, weil die Wirtschaftspolitik in Deutschland hervorragend war und ist“. Diese Illusion verkenne „fundamentale Schwächen der deutschen Volkswirtschaft“ und, „dass Deutschland von seiner Substanz lebt.“ Fratzscher sagt voraus, „der Abstieg der deutschen Volkswirtschaft“ werde sich beschleunigen, wenn es nicht gelinge, „die gegenwärtige deutsche Wirtschaftspolitik fundamental zu verändern“;
- Deutschland brauche Europa nicht, und seine wirtschaftliche Zukunft liege außerhalb des Kontinents;
- Europa sei nur auf Deutschlands Geld aus. Viele glaubten, was gut für Europa sei, sei schlecht für Deutschland.
Gabriel sagte bei der Vorstellung des Buches, Fratzscher stelle sich „einem Lebensexperiment“, denn er könne ab jetzt seine Erkenntnisse in die Tat umsetzen – er ist am 28.08.2014 vom BMWi zum Vorsitzenden einer externen Expertenkommission zur Stärkung der Investitionen in Deutschland berufen worden, einer Kommission von „13 hochrangigen und fachkundigen Vertretern aus Wissenschaft und Praxis und soll Vorschläge erarbeiten, wie private und öffentliche Investitionen in Deutschland gestärkt werden können“ (DIW).
„Deutschland sieht sich gerne als Hort der Stabilität in einem unsicheren Europa,“ so der Klappentext. „Es ist stolz auf seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und darauf, dass es ziemlich ungeschoren durch die Krise gekommen ist“. Doch laut Fratzscher trügt das schöne Bild: Die deutsche Wirtschaft sei seit 2000 deutlich weniger gewachsen als andere europäische. Zwei von drei Arbeitern seien heute gar schlechter gestellt als noch vor 15 Jahren. Solarify interessierte sich besonders für das siebenseitige Kapitel „In die Energiewende investieren“ – eine Zusammenfassung.
„In die Energiewende investieren“
Fratzscher nennt die Energiewende „eines der größten wirtschaftspolitischen Experimente“ – es sei „wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Energiewende ein Experiment ist“. Denn es gebe „keine Erfahrungen mit einer solchen wirtschaftspolitischen Maßnahme“. Es gebe stattdessen „viele unbekannte Größen bei diesem Unterfangen“. So wüssten wir nicht, wie sich die Technologien der erneuerbaren Energien entwickeln. Zudem müssten „die wirtschaftspolitischen Eingriffe und Anreize marktkompatibel gemacht werden“. Fratzscher hält es für „enorm wichtig, dass private Investoren und Haushalte die Führung bei der Energiewende annehmen und umsetzen. Es bleibt offen, wie die enormen Investitionen, die notwendig sind, damit die Energiewende ein Erfolg wird, finanziert werden können.“
Diese aktuellen Bedenken in puncto Energiewende müssten ernst genommen werden, auch wenn die Diskussion zu kurz greife. Denn die langfristigen Chancen der Energiewende für Deutschland seien enorm. Wir dürften nämlich „nicht ignorieren, dass die Klimapolitik und die Verringerung von [[CO2]]-Emissionen ganz zentrale Ziele der Energiewende“ seien. Fratzscher zählt diese Ziele noch einmal auf:
- Der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch soll bis 2020 von 11 auf 18 und 2050 auf 60 Prozent steigen.
- Die regenerative Stromerzeugung soll 2020 35 und 2050 80 Prozent erreichen.
- Energieeffizienz: Der Primärenergieverbrauch soll bis 2050 um 50 Prozent gegenüber 2008 sinken.
Diese ambitionierten Ziele können laut Fratzscher nur erreicht werden, wenn die Investitionen in erneuerbare Energien massiv erhöht werden.
- In Technologie und Anlagen der Strom- und Wärmeerzeugung müssten bis 2020 jährlich zwischen 17 und 19 Milliarden Euro investiert werden,
- in die Stromnetze knapp 6,1 Milliarden Euro,
- in die Systemintegration erneuerbarer Energien (die verschiedenen Formen der Energieerzeugung müssten systemkompatibel gemacht werden) fast eine Milliarde Euro pro Jahr, schließlich
- ca. 13 Milliarden Euro jährlich in die energetische Gebäudesanierung.
Untern Strich kommt der DIW-Chef bis 2020 auf einen jährlichen Investitionsbedarf zwischen 31 und 38 Milliarden Euro. Um die Ziele der Energiewende zu erreichen, seien diese Investitionen „unabdingbar“.
400 000 neue Arbeitsplätze – Importabhängigkeit verringert
Die Energiewende sei jedoch nicht nur Kostenfaktor, sondern auch Chance: „Gelingt sie, kann die deutsche Wirtschaft in diesem Bereich global die Führung übernehmen und sich durch Innovation und Technologieentwicklung ein weiteres Standbein aufbauen.“ Immerhin seien durch die erneuerbaren Energien viele Unternehmen entstanden, Fratzscher nennt „fast 400 000“ neue Arbeitsplätze, die allein durch die Produktion von Anlagen, Forschung und Entwicklung, Netzwerken oder anderen Dienstleistungen geschaffen wurden. Man müsse noch viele andere Jobs, etwa bei Zulieferern, dazu zählen. Die Energiewende sei ein Wachstumsmotor: 2020 werde die Wirtschaftsleistung der gesamten deutschen Volkswirtschaft nur auf Grund der Energiewende um 2,8 % höher sein als 2000 – es gebe gute Argumente dafür, dass langfristig die Energiewende das Wachstum und die Dynamik der deutschen Volkswirtschaft verbessern wird.
Schließlich verringere Deutschland die Abhängigkeit von der Einfuhr fossiler Brennstoffe – denn „noch importiert Europa jedes Jahr 350 Milliarden Euro an fossilen Brennstoffen. Die Energiewende sollte langfristig einen großen Teil dieser Importe überflüssig machen und damit auch die politische und wirtschaftspolitische Abhängigkeit von Ländern wie Russland oder dem Mittleren Osten deutlich reduzieren.“
Kernbotschaft: Faktor Energiekosten entscheidet nicht über Zukunftschancen
Allerdings hält Fratzscher viele der gegenwärtigen Bedenken für gerechtfertigt. Die Energiewende dürfe „die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht schädigen und die Versorgungssicherheit nicht gefährden, denn dies würde gleichzeitig die Ziele der Energiewende unerreichbar machen. Viele Diskussionsbeiträge beruhen jedoch auf falschen Fakten und Annahmen.“ So wüssten wenige, dass Energie im deutschen Großhandel derzeit weniger koste als in den USA. Die von der EEG-Umlage ausgenommenen energieintensiven Unternehmen hätten keinen Wettbewerbsnachteil. Zudem stelle der Anteil der Energiekosten am Umsatz (im Durchschnitt 1,6 %) der restlichen 92 % der industriellen Produktion keinen entscheidenden Kostenfaktor dar. Fratzscher nennt es „eine wichtige Kernbotschaft, dass für die große Mehrzahl der Unternehmen in Deutschland der Faktor Energiekosten nicht über die Zukunftschancen entscheidet“.
Allerdings warnt der Ökonom davor, Deutschland könne durch eine verfehlte Energiepolitik seine Vorreiterrolle bei den erneuerbaren Energien gefährden. Laut DIW hätten einige asiatische Länder und die USA Deutschland bereits eingeholt oder gar überholt. Werde die Energiewende verzögert, oder Reformen halbherzig durchgeführt, gefährde das Deutschlands Vorreiterrolle, erhöhe die Kosten und reduziere mögliche wirtschaftliche Vorteile.
Energiewende gelingt nur durch sehr viel höhere Privat-Investitionen
Fratzschers Fazit: „Die Energiewende kann nur durch sehr viel höhere Investitionen von privaten Akteuren gelingen.“ Deshalb fordert er „bessere Rahmenbedingungen und Anreize seitens der Politik“. Die energetische Gebäudesanierung brauche angemessene Zertifizierungen und ergänzende Finanzierungskonzepte. Energieintensive Unternehmen verlangten „spezifische Förderung der innovativen Technologien und eine Reform des europäischen Emissionshandels“. Das EEG müsse „regulatorische Risiken vermeiden und unvollständige Vertragsmärkte berücksichtigen, so dass breite Gruppen von Investoren beteiligt werden können“. Von der Bundesregierung verlangt der Autor zudem, dass sie diese Reformen nicht nur in Deutschland, sondern auch auf EU-Ebene voranbringe.
Marcel Fratzscher, Jahrgang 1971, studierte in Kiel, Oxford, Harvard und Florenz. Nach verschiedenen beruflichen Stationen, u. a. bei der Europäischen Zentralbank, der Weltbank und dem Peterson Institute for International Economics in Washington DC, sowie dem Harvard Institute for International Development in Jakarta, Indonesien, ist er heute Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Marcel Fratzscher lebt in Berlin.
Marcel Fratzscher: Die Deutschland-Illusion – Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen (Hanser Verlag)
Erscheinungsdatum: 29.09.2014, Fester Einband, 278 Seiten, Preis: € 19,90 – ISBN 978-3-446-44034-0
->Quellen: